Skirennfahrerin Sofia Goggia: Wenn es knallt, steht sie einfach wieder auf (2024)

Sofia Goggia ist die beste und zugleich spektakulärste Abfahrerin der Welt. Ihr Körper trägt zahlreiche Spuren von Verletzungen. Doch die Italienerin sagt, sie fahre nicht mit übertriebenem Risiko – sie stehe bloss nicht ständig auf der Bremse.

Remo Geisser, Cervinia

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Schon viermal hat Sofia Goggia die Disziplinenwertung in der Königsdisziplin Abfahrt gewonnen. Was sie aber zur herausragenden Figur im Skizirkus macht, ist das, was sie selbst als «Goggia-Style» bezeichnet. Sie umschreibt das in einem Gespräch in Cervinia so: «Wenn ich am Start stehe, weisst du nie, was passieren wird.»

Sie hat das im ersten Rennen dieser Saison in Sölden wieder erlebt. Mit vollem Einsatz fährt sie über eine Kuppe, da sieht sie etwas weiter unten einen Mann, der zwischen den Toren mit der Schaufel hantiert. Was ging ihr da durch den Kopf? «Bei mir geschehen Dinge, die weltweit nur sehr selten vorkommen. Es muss mit einer seltenen Konstellation der Sterne zu tun haben.»

Die Personifizierung von «sh*t happens»

Tatsächlich wirkt es manchmal, als würde sie die Floskel «sh*t happens» verkörpern. 2019 stürzte sie bei einem Autounfall aufs Dach eines Transporters und blieb unverletzt. 2021 blieb sie auf einer Touristenpiste an einem Schneehaufen hängen und brach sich das Schienbeinplateau. 2022 touchierte sie in St.Moritz ein Tor und brach sich die Hand.

Hinzu kommen ungezählte Stürze auf den Rennpisten. Doch Goggia hat die Gabe, all diese Rückschläge wegzustecken. In Sölden bremste sie, schulterte die Ski und stieg zurück in Richtung Start. Sie durfte noch einmal starten und sagte im Ziel: «The show is on.» In St.Moritz hatte sie damals sofort einen Chauffeur organisiert, der sie nach Mailand ins Spital brachte. Goggia wurde unter Vollnarkose operiert, am nächsten Tag stand sie wieder am Start und siegte.

Den grössten Beweis für ihren unbändigen Willen aber erbrachte sie im Februar 2022. Am 24.Januar war sie in Cortina schwer gestürzt. Diagnose: Verstauchung und Kreuzbandverletzung im linken Knie, kleine Fraktur des Wadenbeins. Die Athletin begann sofort mit der Reha, obwohl ihr die Ärzte klarzumachen versuchten, dass sie sich keine Illusionen machen müsse: Eine Teilnahme an den Winterspielen im Februar in Peking sei undenkbar.

Goggia kam humpelnd in Peking an. «Aber das Skifahren schmerzte weniger als das Gehen», sagt sie heute. Dafür tat es in der Seele weh, was die Athletin der italienischen Presse entnehmen musste. Maria Rosa Quario, einst Skifahrerin, nun Journalistin und Mutter von Federica Brignone, hatte die Rivalin ihrer Tochter als Drama-Queen bezeichnet, die alles mache, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Die olympische Abfahrt fand am 15.Februar statt, nur drei Wochen nach dem Crash von Cortina. Goggia bekreuzigte sich am Start und stürzte sich den Berg runter. Sie gewann Silber, 16 Hundertstel hinter Corinne Suter. Und obwohl sie das Undenkbare geschafft hatte, war ihr deutlich anzusehen, dass sie noch mehr gewollt hatte: Gold.

Woher aber nimmt sie die Energie, um sich immer wieder zurückzukämpfen? Sie sei in solchen Situationen wohl auf Autopilot unterwegs. «Du weisst, was du zu tun hast, also tust du es.» Dass das an die Substanz geht, spürt sie erst hinterher. Zum Beispiel nach dem Handbruch vor einem Jahr. Es sei für sie einfach gewesen, am nächsten Tag wieder zu starten, weil sie sich gesagt habe, sie brauche zum Skifahren ja nur die Beine.

Die Müdigkeit kam zu Weihnachten und dann in den Rennen im Januar. Goggia musste erfahren, dass es im Skifahren nicht nur gute Beine braucht. Sie konnte den Stock nicht greifen und musste den Fahrstil anpassen, weil sie den rechten Arm nicht wie gewohnt einsetzen konnte. Als sie nach der Saison ein MRI machen liess, zeigte sich, dass die Knochen zwar verschraubt waren, die Brüche aber waren nicht verheilt.

Fragt sie sich manchmal, was sie ihrem Körper da antut? Goggia streicht über die Narbe auf der Hand, krempelt den Ärmel hoch und zeigt auf eine weitere Narbe. «Das ist das Ergebnis meiner Fehler und der Tapferkeit, diese zu überwinden», sagt sie. «Ich muss mich so akzeptieren, wie ich bin.»

Wie sie ist? Eben wie Sofia Goggia, ein emotionaler Mensch, der seinem Instinkt freien Lauf lässt. Emotionen prägten sie auf positive wie auf negative Weise. Manchmal wäre sie froh, wenn sie das besser steuern könnte. Anderseits sagt sie auch, dass Sport doch von Emotionen lebe. «Es gibt Leute, die fahren wie Roboter. Ich nehme mein Herz in beide Hände und greife an.» Die 31-Jährige ist überzeugt davon, dass die Leute auch deswegen Skirennen am Fernsehen schauen.

Allerdings nervt sich die Italienerin auch darüber, dass ständig gesagt wird, sie riskiere zu viel. «Man steckt mich in ein Kästchen und schreibt darauf ‹risky girl›. Aber das ist völlig falsch.» Sie fahre heute viel kontrollierter als früher. Und manchmal sehe sie eine noch schnellere Linie, und das sehe dann spektakulär aus. Aber im vergangenen Winter habe sie fünf von neun Abfahrten gewonnen, dreimal sei sie Zweite geworden. «Und einmal schied ich aus, weil das Timing auf einer Welle nicht stimmte.» Aber klar, sie stehe nicht ständig auf der Bremse, denn so gewinne man keine Rennen.

«Du musst tapfer sein»

Skirennfahrerin Sofia Goggia: Wenn es knallt, steht sie einfach wieder auf (2)

Und wie man gewinnt, das weiss sie. 22-mal stand Sofia Goggia bisher im Weltcup zuoberst auf dem Podest, das ist bei den Frauen italienischer Rekord. Im Nacken sitzt ihr aber die grosse Rivalin Federica Brignone mit 21Siegen. Dass deren Mutter sie einst als Drama-Queen abstempelte, hat sie abgehakt. Maria Rosa Quario arbeitet nicht mehr als Journalistin und ist im Weltcup weniger präsent. Seither hat sich das Verhältnis zwischen Goggia und Brignone etwas normalisiert.

Auf der Piste aber schenken sie sich gegenseitig nichts. Goggia ist überzeugt, dass sie sich immer noch verbessern kann. Der erste Schritt dazu ist in der Abfahrt das Selbstvertrauen. Nur wer hundertprozentig von sich überzeugt ist, kann im Autobahntempo auf Eis ans Limit gehen. Goggia sagt: «Du musst tapfer und bestimmt sein, du musst wirklich an dich glauben. Das ist der Schlüssel.»

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